Ostfrauen

Das ist es wieder, dieses Ossi-Wessi-Ding. Vor der Wahl, nach der Wahl, zum Tag der Einheit sowieso. Als ich einem Kollegen sage, dass mir ein bisschen unbehaglich wird, bei all diesen Westreportern, die da plötzlich ausschwärmen und bei ihren pseudo-ethnologischen Erkundungen immer nur die halbe Wahrheit einsammeln, sagt der: Ja, aber wie denn sonst? Wie viele Ossis kennst du denn?

Ich stutze einen Moment, zähle im Geiste nach und stelle fest: Unter den Freundinnen, die mir die liebsten sind, findet sich eine erstaunlich hohe Quote an Ostfrauen. Das ist natürlich eine total unrepräsentative Auswahl, so groß ist mein Freundeskreis ja nicht. Es sind auch total unterschiedliche Frauen, deren einzige Gemeinsamkeit auf den ersten Blick ist, das sie halt irgendwann in den Westen gegangen sind.

Aber wenn ich weiter darüber nachdenke, was sie wohlmöglich noch gemeinsam haben und warum ich so gut mit denen kann, fällt mir auf: Sie kommen mir tatkräftiger vor. Als hätten sie eine grundsätzlich höhere Bereitschaft dem Leben ein bisschen Glück abzutrotzen, weil sie sich die naive Auffassung, dass hier schon jeder kriegt, was er verdient, vor langer Zeit abgeschminkt haben.

Sie sind ein bisschen wie Aschenputtel. Wenn sie auf den verdammten Ball gehen wollen, dann gehen die auf den verdammten Ball. Und wenn sie sich das Kleid selber nähen müssen. Und vorher haben sie noch die ganze Arbeit wegerledigt, weiß der Kuckuck (oder die Tauben) wie.

Als verwöhnte, verweichlichte Westfrau bin ich ja eher zur Prinzessin auf der Erbse erzogen. Huch, das ist jetzt alles nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Mimimi. Hader, nörgel, zweifel. Wer haftet denn da jetzt? Wer hat Schuld? Hallooo? Hersteller-Garantie? Versicherungsleistung? Vater Staat?

Wenn ich eine ordentliche Ostfrau wäre, denke ich, hätte ich jetzt schon den Matratzenstapel umgeschichtet, die Erbse gefunden und eingekocht, gegen irgendwas getauscht und säße mit dem Prinzen beim Frühstück.

Aber wie gesagt, total unrepräsentativ das. Und trotzdem: Chapeau, mesdames. Ich wünsche euch einen schönen Feiertag. Was auch immer es da zu feiern gibt.

Wie Integration in Wirklichkeit funktioniert

Ich genieße ja schon länger das Privileg, meiner angeheirateten italienischen Sippschaft beim Leben zu zuschauen. Im Studium (lang ist’s her) habe ich mich auch mal wissenschaftlich mit dem Thema Einwanderung beschäftigt. Es gibt deshalb ein paar Dinge in den aktuellen Integrationsdebatten, die mir Kopfschütteln bis zur Nackenstarre verursachen. Ein Blick zurück.

Als die ersten als Gastarbeiter (lauter alleinreisende Männer) hier ankamen, sperrte man sie in Arbeiterwohnheime, die fatale Ähnlichkeit mit Arbeitslagern hatten (und es manchmal auch gewesen waren, nur notdürftig umgebaut und aufmöbliert). Es gab immer mal wieder Debatten um Ausgehzeiten, man fürchtete um das Wohl der deutschen Frauen und Mädchen, wenn diese glutäugigen Lustmolche frei herumliefen.

Als später die Familien nachkamen, hielt man es für eine clevere Idee, sie in Sozialwohnungen in Hochhaussiedlungen anzusiedeln, übrigens meist hübsch nach Nationalitäten getrennt. Es gab dann einen Italienerblock, einen Jugoslawen-Block, einen Türken-Block, usw. Staatlich geförderte Parallelgesellschaften, sozusagen. Gegen die hatte man damals nicht so viel, die sollten ja eh alle zurückgehen.

Es gibt übrigens immer noch einige Migrationsforscher, die Parallelgesellschaften für ein notwendiges Übergangsstadium halten, die der Aufnahmegesellschaft viel Arbeit abnehmen. Sie lindern nicht nur das Heimweh, sie helfen auch bei der ersten Orientierung, bei der Überwindung der zahlreichen bürokratischen Hürden, bei den tausend Fragen, die sich einem Neuankömmling zwangsläufig stellen (Wo muss ich mich anmelden? Wo muss ich das Kind für die Schule anmelden? Wie findet man hier einen Job, eine Wohnung, das richtige Straßenbahnticket…).

Bei den Italienern übernahmen diese Funktion entweder die Kirchengemeinden (Missioni cattoliche italiane) oder Gewerkschaftszirkel verschiedenster Coleur. Hier traf man Leute, die sich auskannten und einem weiterhelfen konnten. Hier gab es ordentlichen Kaffee (nicht die deutsche Plörre) und Kartenspiele, wie man sie von zuhause kannte.

Abgesehen von den guten Jobs und der guten Bezahlung fanden es die meisten hier nämlich ziemlich furchtbar: Das Wetter, das Essen, die Leute – alles so kalt, ungenießbar, griesgrämig.

Irgendwann begannen aber die ersten wegzuziehen. Man konnte sich das jetzt leisten. In bessere Viertel, hübschere Wohnungen, manche bauten sogar eigene Häuser. Die Rückkehrpläne wurden immer weiter aufgeschoben (auf die Rente, vielleicht). Es wurde nicht mehr jeder Pfennig gespart. Die Häuschen standen in den Dörfern im Umland, wo das Bauland noch erschwinglich war. Und so taten sie, was Italiener immer tun: Sie arrangierten sich. Mit den deutschen Arbeitskollegen, den deutschen Nachbarn, sogar dem deutschen Vereinswesen – so übel waren die bei näherer Betrachtung dann wohl doch nicht. Irgendwann gab es dann auch das ein oder andere Wesen des anderen Geschlechts, das gar nicht so griesgrämig, kaltherzig und hochnäsig daher kam. Die „Mischehen“ häuften sich. Die Kinder sprechen besser deutsch als italienisch.

Als Italiener verstehen sich die meisten trotzdem noch. Das ist irgendwie sexier, das macht mehr her. Und wenn sie nach Italien fahren, ist drei Tage lang alles besser: Das Wetter, das Essen, die Menschen. Dann fangen sie an, sich über die Dinge aufzuregen, die nicht so funktionieren, wie sie das aus Deutschland gewohnt sind.

Die Müllabfuhr. Der Verfall der öffentlichen Straßen und Plätze. Die gelegentlichen Unterbrechungen in der Strom- und Wasserversorgung. Die Tatsache, dass die Polizei nicht einmal rauskommt, um die Beule am Mietwagen in Augenschein zu nehmen. Oder dass es gar kein Unwetter braucht, damit die Straßen einen halben Meter unter Wasser stehen, normaler Regen reicht völlig. Oder dass dieses chronisch korrupte und faule Beamtenpack die Wartenummer in deiner Hand ignoriert und ganz selbstverständlich die eigenen Bekannten vorzieht, mit denen man dann auch noch ein ausgiebiges Schwätzchen hält, während du anstehst wie ein Depp. Die Notaufnahme, in der angeblich schon wieder jemand beim Warten gestorben ist. Und ganz ehrlich, dieses Bier…

Sie haben immer noch nicht die Nationalhymne und das Grundgesetz auswendig gelernt. Sie sind genau so lange Fans der deutschen Nationalmannschaft bis diese gegen Italien spielt. Und trotzdem: Sie wissen zu schätzen, was man hier hat. Die Möglichkeit ein gutes Leben zu führen nämlich.Und ja: Ich befürchte, sie wären bereit, es mit Waffengewalt zu verteidigen, wenn sie das Gefühl hätten, es würde ernsthaft bedroht.

Wichtiger ist: Heimlich, still und leise hat sich ihr inneres Koordinatensystem neu justiert. Was man für „normal“ und „richtig“ und „anständig“ hält, was man von einem Staat erwarten darf und was nicht – das sind die Punkte, in denen sie sich deutschen Mentalitäten sehr viel stärker angenähert haben, als sie das selbst für möglich gehalten hätten.

Und das ist auch schon das ganze Geheimnis gelingender Integration: In dem Moment, in dem eine Gesellschaft, den Neuankömmlingen eine Perspektive bietet, ein – und sei noch so vages – Versprechen auf sozialen Aufstieg und Kinder, die es einmal besser haben, vollzieht sich die Anpassung ganz von allein, weil alles andere diesem Ziel untergeordnet wird. Bietet sich diese Perspektive nicht, bleibt man in der Parallelgesellschaft stecken. Jeder Mensch möchte irgendwo dazu gehören, Anerkennung erfahren. Wer das hier nicht bekommt, sucht sie da, wo sie früher herkam. Da, wo man noch jemand ist.

Bekenntnisse, feierliche Eide oder Schwüre einzufordern auf eine freiheitlich-demokratische Grundordnung, eine deutsche Leitkultur oder Wertegemeinschaft – kann man machen. Pragmatisch wie sie sind, hätten sie auch das wahrscheinlich über sich ergehen lassen, die Finger gekreuzt und vaffanculo gemurmelt. Geändert hätte das aber erst einmal nichts, jedenfalls nicht an ihrer Auffassung, dass Deutsche eben seltsam sind. Ihre Überzeugungskraft entfaltet die deutsche Kultur ganz offensichtlich erst mit der Zeit. Und die hat viel damit zu tun, dass Dinge hier eben verdammt nochmal besser funktionieren als anderswo.

Aber das möchten die Pseudo-Patrioten von AfD und Pegida natürlich nicht so gern hören. Das würde ja ihre Abendland-Untergangs-Phantasien stören und das Märchen vom dysfunktionalen Staat. Und das wäre ja zu schade, wo man sich doch gerade erst in das Gefühl verliebt hat, es gäbe endlich einmal eine entscheidende Schlacht zu schlagen – in einem Leben, in dem sonst nichts passiert.